SPD 60 plus

Baden-Württemberg

Arzneimittelbehandlung älterer Menschen

Problemzone im medizinischen Alltag

Die Verordnung von Arzneimitteln bei älteren Menschen stellt in der Praxis tätige Ärzte vor erhebliche Herausforderungen. Denn die Behandlung geriatrischer* Patienten mit Arzneimitteln ist mengenmäßig eine der häufigsten medizinischen Interventionen. Eine richtige und sachgerechte Verordnung ist schwierig.
Die Problematik
Der Arzt muss sich Klarheit darüber verschaffen, ob ein älterer Mensch nach den Kriterien eines geriatrischen Patienten behandelt werden muss. Geriatrische Patienten weisen zumeist Vielfacherkrankungen, eine geriatrietypische Multimorbidität* auf. Sie haben nicht nur eine, sondern mehrere Krankheiten und sind in der Regel 60 Jahre und älter.
Geriatrietypische Multimorbidität liegt dann vor, wenn mindestens zwei von vierzehn ausgesuchten Symptomen nebeneinander bei einem Patienten bestehen, die dafür charakteristisch sind zum Beispiel eine Arthrose*, ein Bluthochdruck, eine chronische Bronchitis, ein Diabetes mellitus* und eine Osteoporose*. In einem solchen Fall werden zehn, zwölf oder gar fünfzehn verschiedene Medikamente verordnet.
In einer Zeit des demografischen Wandels ist diese Situation medizinischer Alltag, wie verschiedene umfangreiche Veröffentlichungen der vergangenen zwei bis drei Jahre in führenden Fachjournalen gezeigt haben (siehe Literaturhinweise). Das Resümee dieser Studien: in vielen, wenn nicht sogar in der Mehrzahl der Fälle besteht Unklarheit darüber, ob so viele Medikamente tatsächlich wirksam sind, ob dadurch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) provoziert werden und ob weniger Medikamente nicht mehr an Wirksamkeit entfalten würden.
Kurzum die Frage welche und wie viele Arzneimittel einem alten Menschen nützen – ist nicht wirklich beantwortet. Sie sollte deshalb mit hoher Dringlichkeit durch gezielte klinische Studien erarbeitet und belegt werden, um verbindliche Leitlinien für medikamentöse Therapien in der geriatrischen Medizin zu erstellen.
Der kürzlich vorgestellte Arzneiverordnungsreport* 2007 ergab, dass in Deutschland die über 60-Jährigen mehr als die Hälfte aller verordneten Tabletten einnehmen; diese Altersgruppe macht aber nur ein Viertel der Bevölkerung aus. Danach nehmen Menschen zwischen 75 und 85 Jahren im Durchschnitt drei bis vier Arzneien pro Tag ein, jeder Dritte in dieser Altersgruppe sogar mehr als acht Medikamente, in Einzelfällen sogar 30 und mehr verschiedene Wirkstoffe (Multimedikation*).
Beunruhigend, ja bestürzend ist, dass verordnende Ärzte oft gar nicht hinreichend beurteilen können, wie Arzneimittel in fortgeschrittenem Alter wirken: dazu fehlen schlicht die erforderlichen kontrollierten klinischen Studien.
Arzneimittelprofile*
Arzneimittelprofile werden von der pharmazeutischen Industrie* an einzelnen Wirkstoffen und für sehr spezifische Indikationen in Kombinationsstudien für zwei, maximal drei Wirkstoffe mit Indikationsnachweis erstellt und dies nur an Patientengruppierungen im Alter von maximal 60 bis 65 Jahren, also deutlich unter der geriatrischen Altersgruppe. Eine sorgfältige Analyse von Daten aus Hausarztpraxen mag hier ein erster Ansatz zur Beantwortung der Frage sein, ob Medikamente im Alltag andere Effekte als erwartet haben und welche Effekte von Medikamentenkombinationen zu erwarten sind (Petra Thürmann, Universität Witten/Herdecke). Den international gültigen Kriterien zur Validierung* neuer Medikamente und von Medikamentenkombinationen entspricht dieses Vorgehen allerdings nicht.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) in der Geriatrie
Die Physiologie* geriatrischer Patienten weist Eigenschaften auf, die bei der Medikamenteneinnahme eine veränderte Pharmakokinetik* und Pharmakodynamik* bedingen. Deshalb wäre nach strengen Kriterien die Erfassung der wesentlichen geriatrietypischen pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Parameter Voraussetzung für die Erstellung eines dem einzelnen Patienten zugute kommenden Dosierungsschemas bezüglich Initial-, Einzel-, Einzelmaximal-, Tages-, Tagesmaximal-, Norm- und Erhaltungsdosis wünschenswert, ein im medizinischen Alltag nicht zu erfül¬endes Anforderungsprofil. Es bleibt deshalb die vornehmliche und verantwortungsvolle Aufgabe behandelnder Ärzte, Dosierungsempfehlungen (Beipackzettel) der Hersteller für den einzelnen Patienten anzupassen.
Jedes wirksame Pharmakon* hat jenseits geprüfter und empfohlener Do-sisbereiche dosisbezogene Nebenwirkungen und kann zu UAW führen. Ältere Patienten sind davon in besonderem Maße betroffen. UAW können in von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Dosisbereichen auftreten, die – so eine Arbeitshypothese – mit der Anwendung einer personalisierten Medizin als Zukunftsvision vermieden werden könnten. Denn es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die im Handel verfügbaren Medikamente bei etwa der Hälfte der Patienten nicht optimal wirksam sind; bei manchen Wirkstoffen ist die Erfolgsquote sogar noch kleiner und entsprechend Ursache für UAW.
Es stellt sich also die Frage nach einer für jedes Medikament und für be-stimmte Medikamentenkombinationen adäquaten Diagnostik zur optimalen geriatrischen Pharmakotherapie. Altersabhängige Veränderungen in der Pharmakokinetik sind als Folge einer relativen Abnahme der Körperflüssigkeit und der Muskelmasse einerseits und einer relativen Zunahme des Körperfettgewebes andererseits zu erwarten. Daraus ergeben sich je nach Wirkstoffart veränderte Verteilungsvolumina. Im Alter ist oft die Nierenfunktion eingeschränkt; die Folge ist eine Verminderung der Wirkstoffausscheidung und seine unerwünschte Anreicherung mit verstärkter Wirkung. Nicht selten liegt isoliert oder zusätzlich eine gestörte Leberfunktion vor; sie bedingt eine verzögerte Metabolisierung* verabreichter Wirkstoffe und verändert die Pharmakodynamik. Die klinische Konsequenz können UAW mit bedrohlicher toxischer Symptomatik sein. So kann die Verordnung gängiger Schmerz- und Entzündungshemmer (NSAID*) gegen Arthrose die Nierenfunktion bei Hochbetagten gänzlich zum Erliegen bringen, und Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ des Valiums (Benzodiazepine*) oder auch Antidepressiva* können Verwirrtheit und Stürze mit schwerwiegenden Folgen verursachen.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen Wirkstoffe, die Patienten ohne Wissen ihres Arztes dazukaufen; sie können ein bestehendes UAW-Risiko erhöhen. Das Johanniskraut etwa begünstigt die Überdosierung bestimmter Herzmedikamente vom Digitalistyp. Der Alkoholgehalt im Melissengeist potenziert die Wirkung von Psychopharmaka*. Ginkgo-Präparate steigern die mit Aspirin verbundene Gefahr zu inneren Blutungen. Alkoholkonsum verstärkt die Wirkung von Beruhigungs- und Schlafmitteln.
Angaben zur Non-Compliance* bei geriatrischen Patienten schwanken zwischen 26% und 75%. Weil sich der Befund zunehmender Einnahmefehler bei einer wachsenden Zahl gleichzeitig verordneter Medikamenten durch die Literatur zieht, besteht unter Geriatern* der Konsens, nicht mehr als vier Medikamente gleichzeitig zu verordnen. UAW häufen sich bei Mulimedikation und Wechselwirkungen nehmen mit der Zahl gleichzeitig verordneter Medikamente exponentiell zu. Eine populationsbasierte Studie 70-Jähriger und Älterer ergab bei Multimedikation Wechselwirkungsprofile, die schon bei einer Kombination von fünf Wirkstoffen mit dem Auftreten von wenigstens einer potentiell verstärkenden oder abschwächenden UAW belastet sind.
Leitsätze geriatrischer medikamentöser Behandlung
Medikamentöse Verordnungen für geriatrische Patienten müssen die Abnahme der Sehschärfe, der Feinmotorik (Verpackung von Medikamenten), des Durstgefühls und der Flüssigkeitsaufnahme (Pharmakokinetik), des kognitiven Leistungsvermögens (komplexe Therapievorschriften), der Compliance* (Medikationsfehler) beachten und zudem mit einer fortschreitenden Multimorbidität rechnen, ein Umstand, der die Zahl behandelnder Ärzte (Spezialisten) sowie das Ausmaß der Selbstmedikation mit OTC Präparaten* vergrößert.
Diese Erfahrungen und Erkenntnisse verlangen:
1. strenge Indikationsstellung mit Priorisierung der Behandlungsoptionen,
2. vollständige und regelmäßige Erhebung der Medikamentenanamnese,
3. gründliche Kenntnis der Pharmakologie*,
4. niedrige Anfangsdosierung mit langsamer Dosisanpassung,
5. Vermeidung von Multimedikation,
6. wiederholte Auslass- und Absetzversuche,
7. Erfassung und lückenloses Berichtswesen unerwünschter Wirkungen und Wechselwirkungen,
8. Aufklärung, Information und Beratung der Patienten und/oder der Ange¬hörigen und Bezugspersonen sowie
9. einfache und verständliche Dosierungsanweisungen und Verwendung von Dosierungshilfen.
Notwendig ist unter Wahrung der Persönlichkeitssphäre die uneingeschränkte Datentransparenz und Informationspflicht zwischen Arztpraxen zum Wohle des einzelnen Patienten, wenn er von verschiedenen Ärzten gleichzeitig behandelt wird.
Hausärzte sind zunehmend die entscheidende Schnittstelle zur Valdierung der Arzneitherapie bei alten Menschen, solange die Arzneimittelhersteller sich dieser Verpflichtung entziehen können. Ihnen sollte der Besuch von pharmakotherapeutischen Fortbildungsveranstaltungen in regelmäßigen zeitlichen Abständen Verpflichtung sein. Zudem sollte allen in der Praxis tätigen Ärzten eine allgemein gültige, verbindliche und aktualisierte Software über bekannte Potenzierungen, Abschwächungen und Interaktionen von pharmazeutischen und natürlichen Wirkstoffen zur Verfügung gestellt werden. Die elektronische Patientenkarte würde bei standardisierter, sorgfältiger Erhebung und Dokumentation aller relevanten Patientendaten eine erhebliche Risikoverminderung bei der medikamentösen Behandlung des Einzelfalles schaffen.

Verwendete Fachausdrücke*
• Antidepressiva: Medikamente gegen Depression.
• Arzneiverordnungsreport 2007: ist die Auswertung aller mit den gesetzlichen Kassen abgerechneten Rezepte im Jahre 2007.
• Arzneimittelprofil: die Gesamtheit der für ein Arzneimittel typischen Wirkung
• Arthrose: chronische Gelenkerkrankung.
• Benzodiazepine: Arzneimittel vom Typ „Valium“ sind Psychopharmaka.
• Compliance: Befolgung von Dosis- und Verabreichungsvorschriften.
• Diabetes mellitus: Zuckerkrankheit; Vorkommen als Typ 1 und Typ 2.
• Geriater: Spezialarzt für Geriatrie.
• Geriatrie: Alterskunde; der geriatrische Patient ist der betagte Patient.
• Non-Compliance: Nichtbefolgung von Dosis- und Verabreichungsvorschriften.
• Metabolisierung: Umsetzung durch Stoffwechselprozesse.
• Multimedikation: gleichzeitige Einnahme verschiedener Medikamente.
• Multimorbidität: Zustand bei Vorliegen mehrerer Krankheiten; die geriatrische Multimorbidität ist die Entsprechung bei alten Menschen.
• NSAID: nicht steroidale Arzneimittel zur Entzündungshemmung.
• Osteoporose: Knochenschwund.
• OTC-Präparte: Over-the-Counter-, d. h. frei verkäufliche Arzneimittel.
• Pharmakologie: Arzneimittelkunde.
• Pharmakodynamik: die Pharmakon-Rezeptor-Wechselwirkung und die sich anschließenden Vorgänge (Signaltransduktion), an deren Ende der pharmakologische (Medikamenten-) Effekt steht.
• Pharmakokinetik: beschreibt Teilprozesse der Wirkstoffaufnahme, -verteilung und –ausscheidung.
• Pharmakotherapeutische Fortbildung: Fortbildung zur indikationsgerechten Verschreibung von Arzneimitteln.
• Pharmakon: der pharmakologische Wirkstoff, das Arzneimittel.
• Pharmazeutische Industrie: Herstellung und Vertrieb von Arzneimitteln.
• Physiologie: Lehre von den Lebensvorgängen.
• Psychopharmakon: Substanz, die vor allem die Gehirnaktivität mit Wirkung auf die Psyche beeinflusst.
• Validierung von Arzneimitteln: Nachweis beanspruchter Wirkstoffeigenschaften.

Literaturhinweise
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